Yoga und die Illusion der Göttin Maya

Schon vor Beginn der Yoga-Übungsstunden haben Teilnehmer und Teilnehmerinnen vorauseilende Vorstellungen und Erwartungen an das was kommen soll oder wie es sein wird. Solche Erwartungen stehen uns oft näher als die Wirklichkeit. Das kann jedoch unerfreuliche Folgen haben.

Wenn ich hier schreibe oder über Yoga spreche, sollte ich also zuerst einige Illusion ausräumen. Erwartungen, Vorstellungen, Filme, Fotos, Worte oder Beschreibungen können die individuell verschiedenen Yoga-Erfahrungen oder allgemeiner die Zukunft nie vorwegnehmen. Das im Fokus der Erwartung Fixierte verändert das Wahrnehmungsfeld. Vorstellungen geraten dort in Konflikt mit dem Realen. Es handelt sich um Konflikte, die zunächst in unserem Inneren Anspannungen hinterlassen. Es sind unbefriedigte Erwartungen und irreführende Wertungen. Unter Umständen bleibt ein Spektrum potenzieller Übungserfahrungen verborgen.

Das ist aber nicht nur in Anfängerstunden bedeutsam. Erwartungen blockieren oft den offenen Blick auf mögliche Erfahrungsfelder. Gewöhnlich eilt der Geist voraus und lässt selektierend nur übrig, was ihm in den Kram passt. Dann sehen wir, was wir sehen wollen. Dieser Wille erreicht selten die Tiefe der Erkenntnisse, die aus wacher Gelassenheit entstehen. Deshalb ist die Beschäftigung mit Geisteshaltungen, die irreführen, ein wichtiger Teil fortgeschrittener Yoga-Studien. Vidya (= Wissen) und Avidya (= falsches Wissen): So unterscheideten die Yogis aus der damaligen Zeit.

Im Yoga – Kontext bietet die Beschäftigung mit Maya (dem Schleier der Illusion oder der Täuschung) Möglichkeiten, um den dicht gewobenen Teppich unserer Denkgewohnheiten zumindest vorübergehend in Richtung Gegenwart zu verlassen. Eine gegenwärtige Wahrnehmung, so unvollkommen sie auch sein mag, bietet uns den einzigen Kontakt mit Wirklichkeit und Wahrheit. Wir können das Vergangene zwar in Erinnerungen bewahren, aber nicht ändern und Künftiges können wir, egal wie viele Erfahrungen und Erinnerungen wir haben, nicht vorwegnehmen. Es bleibt die Ungewissheit bei jedem Schritt in die Zukunft. Trotzdem verbringen wir geschätzte 95 % der Wachphasen damit, uns Wissen zu vergegenwärtigen, um die illusionäre Atmosphäre der Beherrschbarkeit unserer Zukunft zu pflegen. Doch erfahrene Enttäuschungen solcher Vorstellungen zukünftiger Realität deuten auf die darin verborgenen Irrtümer mit ihrem Konfliktpotenzial hin.

Im Unterschied dazu besitzt Yoga die bedeutsame Eigenheit, Illusionen zu entlarven, weil es uns mit innerer Wahrheit konfrontiert. Dazu entfaltet es eine offene Bewusstseinshaltung, die sich nicht damit begnügt, alles außerhalb fokussierter Vorstellungen Befindliche auszuschließen. Das wird umso klarer, je vertrauter einem der Yoga-Zustand wird, der eher einer intuitiven Bewusstseinshaltung nahe steht. Dort herrscht keine Gedanken- oder Vorstellungswelt, die den Geist assoziativ einfängt, sondern ein Gegenwart verhafteter Selbstbezug, der eine gelassenere Wahrnehmung geistiger Prozesse erlaubt. Vielleicht können wir dem, was Yoga vermittelt, hier noch ein wenig näher kommen.

Der Geist wird an ein Meditationsobjekt bzw. Neutrum gebunden, indem wir es unentwegt fokussieren. So entsteht eine relative Ruhe im sonstigen Getümmel der Gedanken. Das Neutrum enthält keine assoziativen Bindungen. In dieser neutralen Ruhe entsteht automatisch eine aufmerksame Wachheit für alles Störende, dass als Randerscheinung bemerkt wird, ohne, dass dabei der Fokus verloren wird. Störend wirken Wahrnehmungen, Erinnerungen, Vorstellungen, Traumbilder oder Gedanken. Sie tauchen gewöhnlich wie Energiefelder am Fokusrand auf. Je stärker sie mit Energie geladen sind, umso eher lenken sie den Fokus von seiner neutralen Fixierung ab. Das ist vergleichbar mit schwarzen Löchern im Weltall, die beim Kreuzen eines Planetensystems mit ihrer Masse und Gravitationskraft die Umlaufbahn von Planeten beeinflussen. Je größer die Dichte des Loches ist, je mehr Energie es bündelt, umso stärker ist der Einfluss, den es im Raum entfaltet.

Das kann auf geistiger Ebene, im Bewusstseinsraum der Meditation, zum Fokusverlust führen. Mit der Wiederholung der Meditation entsteht aber langsam eine stabile Beobachterposition, die fast alle Geistesregungen seismografisch erfasst, aber vermeidet, sich mit ihnen zu identifizieren. Weil die auf das Meditationsobjekt bezogene Fokusstabilität allmählich, mit der Übung zunimmt, wird das auch immer effektiver möglich sein. Langsam entfaltet sich eine Gelassenheit, die ermöglicht, geistige Prozesse passiv, in ihrem Kommen und Gehen zu beobachten. So erkennen und verstehen wir unseren Geist allmählich besser und wir lernen wie wir darauf Einfluss nehmen können. Wenn wir üben, unseren Geist zu verstehen, öffnen sich andere Möglichkeiten, unsere inneren wie die Konflikte in der Welt zu lösen.

Versuchen wir hier einmal, diesen veränderten geistigen Möglichkeiten ein Stück weit zu folgen. Obwohl Worte fast immer nicht sind, worauf sie hindeuten, benutze auch ich als musizierender, bildender Künstler diese meist realitätsfernen Lautkonstrukte zur Verständigung. Das Wort Yoga möchte auf die universelle Einheit des ganzen Seins hindeuten. Damit gemeint ist unsere untrennbare Einheit im Kontinuum von Raum und Zeit. In dieser Einheit ist alles gleichzeitig. Das entspricht aber nicht unserem Denken, verweigert sich der Versprachlichung und übersteigt unsere Vorstellungen. Diese Einheit wurde im Sanskrit Advaita (Nicht-Zweiheit) genannt.

Im Unterschied dazu suchen wir im Rahmen der für uns sichtbaren Details nach Ursachen für Phänomene und vernachlässigen die sich nicht im Blickfeld befindlichen, ganzheitlichen Gegebenheiten. So verhält es sich oft. Das wird folgend am Beispiel lokaler Wetterphänomene deutlicher. Wetter entsteht nicht in einer Wetterküche in überschaubar kleinen Kochtöpfen, sondern alle, sich auch nicht in unserem Blickfeld befindlichen Aspekte, prägen lokale Wettergeschehnisse und strafen oft genug falsche Vorhersagen. Dieses Prinzip nicht-lokaler Aspekte können wir aber auch auf uns selbst beziehen. „Wär nicht das Auge Sonnenhaft, die Sonne könnt’ es nie erblicken“, so sah es Goethe.

Das Sonnenlicht bedingt auf der Erde die Entwicklung optischer Organe, obwohl die Sonne mit einer Entfernung von 149.600.000 km keine lokale Gegebenheit darstellt. Trotzdem ist eine grundlegende Bedingung des Lesens das Licht, auch wenn unser Fokus hier auf anderes gerichtet ist. Ohne “Augenlicht” keine sichtbare Welt, kein Seher, Schreiber, Leser, Denker usw. Sowohl Planetensystem als auch Universum stehen grundsätzlich immer im Gesamtzusammenhang und ohne diese Einheit wäre das sonderbar Einzelne nicht existent.

So ist im Inneren das Äußere und in allem alles. Das sind keine Hirngespinste, sondern offenbare Gegebenheiten die Nobelpreisträger und deren Denkmethoden nicht nur unter Druck setzen. Sie verzweifeln sogar daran. Ein eindrückliches Beispiel für die permanente Verknüpfung ursprünglich verbundener Teile lieferte das Bellsche Theorem.

Es nötigte mit seiner indirekten Beweisführung zur Anerkennung der nicht-lokalen Bindung. Das bedeutet das phasenverriegelte, subatomare Zwillingsteilchen sich Lichtjahre von einander entfernt noch auf einer nicht kausal begründbaren Ebene synchron beeinflussen können. Die Konsequenz dieser Erkenntnis ist nicht nur für die Physik und die Infragestellung der Kausalität, sondern als Bestätigung der vedischen Schlussfolgerung in Indien – „Alles ist miteinander verbunden“ – von größter Bedeutung.

Wir können das als nicht relevant beiseite stellen, weil auf grobstofflicher Ebene der ursprüngliche Zusammenhang aller Dinge nicht mehr direkt wahrnehmbar ist. Auf feinstofflich, subatomarer Ebene ist dieser Zusammenhang aber wirksam. Wenn es nicht um die Ergründung der Realität geht, sondern nur um ihre zweckorientierte Manipulation, wird dieser Zusammenhang vielleicht nicht weiter bedeutsam erscheinen. Wenn aber klar wird, dass alles, was innen ist, auch außen ist und alles, was fern erscheint, auch nah ist, könnte das unser Weltbild sehr nachhaltig verändern. Wer künftig solche gegenseitigen Bedingtheiten ignoriert, leistet einen Beitrag zu jener Unwissenheit und Ignoranz, die global zerstörerisch wirkt. Eine Kultur, die Nachhaltigkeit erstrebt, wird an diesen Einsichten nicht vorbei kommen. Wer das Äußere zerstört, zerstört auch das Innere. Wer ist so verblendet und pflückt die Sonne vom Himmel, wenn sie danach nie mehr scheinen wird?

Wir sinnieren über Phänomene, Geschehnisse und Prozesse erinnernd, induktiv oder deduktiv, zweckorientiert, linear, ein Wort nach dem anderen. Auch in der Mathematik denken wir Schritt für Schritt linear auf ein Ergebnis hin.
Dieses Denken bedarf erinnerbarer Vergangenheit, besinnlicher Gegenwart sowie zukunftsgerichteter, projizierender Vorstellungskraft. Das alles erscheint subjekt-, objekt-, perspektivisch- wie fokusbedingt und folgt daher nicht der Notwendigkeit ganzheitlicher Betrachtung und Denkweisen.

Demgegenüber erscheint Yoga wie auch das Leben im Zustand achtsamer Gegenwärtigkeit erhellend. Wir erleben alles nur im Jetzt und nicht im Vergangenen oder im Künftigen. Doch all unsere Beschreibungs- wie Denkversuche umhüllen Gegenwärtiges mit dem Schleier des Vergangenen. Viele Deutungsversuche vermitteln nicht das Leben in seiner Gegenwärtigkeit und Ganzheit, sondern frieren es ein.

Wir kreierten aus Gegenwärtigem Lehrsätze indem wir das Leben scheinbar als bestmöglich nutzbare oder genießbare Erinnerung wie auf Fotos oder Filmen konservieren. Der Inhalt einer Konserve oder Gefriertruhe vermittelt jedoch eher selten fluktuierende Lebendigkeit. Weiter bezeugen Fotos sowie Filme eher unsere Meisterschaft darin, Illusionen zu erschaffen. Sogar materialistische durch feste unbewegliche Materie gesichert scheinende, Grundlagendefinitionen werden in der Moderne wieder fragwürdig, wenn sie aufgetaut werden.  So führt die Quantenphysik diesen naturwissenschaftlichen Materialismus zu fluktuierenden Variablen, die mehr Fragezeichen als gesicherte Antworten in sich tragen.

Betrachten wir eine der Beweisführungsketten vom Größeren zum kleinsten Bekannten, führt uns die Vorstellung vom Molekül zum Atom, das schon die alten Griechen für das kleinste unteilbare Element hielten. Mit der Behauptung, etwas sei unteilbar, wurden Wissenschaftler mit jeder neuen Definition vorsichtiger. Vergegenwärtigen wir uns einmal die Größenverhältnisse und nehmen eine Erbse in die Hand. Stellen wir uns dann vor, diese Erbse sei ein Atomkern und würde von Elektronen umkreist. So würden ihre Abstände zur Erbse ca. 162 Meter betragen und sie würden sich mit hoher Geschwindigkeit in Wahrscheinlichkeitsbahnen um die Erbse bewegen. Die präzisen Aufenthaltsorte der Elektronen lassen sich also bis zum Messzeitpunkt nicht bestimmen. Dieser Messzeitpunkt bleibt immer ein eingefrorener vergangener Moment. Die Entfernung von unserer Erbse bis zur nächsten Erbse, die einen Atomkern darstellt, würde dann 460 Kilometer betragen. Dem Atomkern mit einem Mikroskop näher kommend, würden wir noch kleinere Teilchen sehen, die man Protonen und Neutronen nannte. Somit wurde das Atom als unteilbar kleinstes Element aus seiner starren altgriechischen Definition befreit und durfte wider zu seinem Sein zurückkehren. Diese Betrachtungsweise immer feinerer Strukturen führt irgendwann zu den Quarks, die aus der Leere eines Quantenvakuums auftauchen, aber sofort wider verschwinden. Das ist also die Ebene, auf der Materie Begriffe ihre Gültigkeit einbüßten. Der Glaube, die Welt sei aus einem festen, berechenbaren Material gebaut, wurde erschüttert und verlor seinen Rang als Realitätsmonopol gegenüber spirituellen Weltbildern.

Das erschüttert die Grundlagen des heute noch gültig scheinenden westlichen Weltbildes vom Atom als Stoff, aus dem solche Träume waren. Das Ganze wirkt immer mit allen Aspekten in allen Dimensionen gleichzeitig. Die Inhalte unserer Beobachtungen gründen aber auf zeitbegrenzt perspektivischer Fokussierung und dann Festgeschriebenem. Dem zum Trotz fluktuieren Vereinzelungen und scheren sich nicht um Kausalität. Sie werden aber missverständlich der lebendigen Dynamik des Ganzen entnommen und bezeugen darauf in präziser wissenschaftlicher Definition mit fixiert lebloser Vergangenheit das lebendige Sein.

Die Welt erscheint uns fälschlicherweise erst als bedachte real und wenn wir sie zu erkennen glauben, stehen wir uns damit oft genug selbst im Weg. So nutzt auch hier, im Augenblick des Lesens, die Verwendung von Wörtern, die allesamt aus Erinnerungen stammen, Vergangenes, um Gegenwärtiges begreifbar zu machen. Diese übergestülpte Vergangenheit macht Geschriebenes oder Gesprochenes schon im Vorfeld fragwürdig. Yoga will im Unterschied dazu einen gegenwärtigen Zustand erzeugen. Das bietet viele Möglichkeiten den dicht gewobenen Teppich unserer kulturbedingten Denkgewohnheiten vorübergehend in Richtung Gegenwart zu verlassen. So gesehen kann dieser Text auch als Notausgang aus sich selbst verstanden werden.

Kriyas als Reinigungsübung von Illusionen zu verstehen, ebnet den Weg zur Wahrnehmbarkeit des gegenwärtigen Seins. Sie beabsichtigen unsere Wahrnehmung zu de-fokussieren, zu öffnen und Entfremdungen zu entlarven. Sie sollen die mentale Rückkehr in die Gegenwart ermöglichen.

Gedanken und Worte fragmentieren diesen Seinszustand, bis er uns fremd wie leer erscheint. So gehen wir dem eigenen, gegenwärtigen Seinszustand mit fragmentierenden Denkmonopolen fremd. Yoga ist ein Zustand, der im erlebbar, sinnlichen Vorfeld des Denkens schwebt, bis ein Gedanke diese lebendige Levitation stört. Wir können Denken und Sprache hier aber als Wegbeschreibung nutzen. Gemeint ist ein Weg zum Raum der Sprachlosigkeit, hinein in die Ruhe des Geistes, zurück zur gegenwärtigen Schwingung unserer Atmung, in die lebendige Heimat des pulsierenden Herzens. So lernen wir uns wahrscheinlich noch besser kennen und der Entfremdung unserer inwärtig, naturhaften Seinsprozesse etwas entgegenzustellen. Vielleicht gelingt es uns, für unsere Erinnerungen, das Denken, die Vorstellungskraft und die Worte einen, angemesseneren Stellenwert in unserem Leben zu finden, als damit die lebendige Vielfalt zu unterwerfen.

Indische Yogis und Gelehrte begegneten diesem irreführenden Dilemma des Denkens auf ihre Weise. Der Ursache für falsches Verständnis, Illusion, Verblendung sowie Irrtümer gaben sie den Namen Maya und verehrten Maya als Göttin. Ihr Wesen erschien in jeder Verschleierung der Wahrheit. Das Gewahrsein ihrer steten Präsenz bewahrte vor Leichtfertigkeit und intellektuellen Eitelkeiten.

 

Jnana-Yoga Gespräche möglich Konditionen wie unter Karma-Yoga